Es geht also nicht nur um kulturelle Muster, die für die Teilnahme an Diskursen wichtig sind, nicht nur um Zeichen, die für andere Zeiten, Orte , Lebenszusammenhänge stehen und die gedeutet werden müssen – es geht auch um die unmittelbare Wirkung des „ästhetischen Objekts“, um ganz persönliche Eindrücke, Emotionen und Assoziationen, die in der eigenen Biografie oder auch Familiengeschichte begründet sind.
Dies lässt sich anhand eines Ausschnittes aus einer dänischen Reportage illustrieren – d.h. einem einstündigen Dokumentarfilm: „Min morfar, Hitlers ven“ („Mein Großvater, Hitlers Freund“)[1], produziert und ausgestrahlt von der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt in Dänemark DR im Jahr 2020, in dem ein sehr spezieller Dialog mit ganz unterschiedlichen Perspektiven gezeigt wird. Gegenstand des Dialogs ist allerdings kein ästhetisches Objekt, sondern eines, das man als das genaue Gegenteil eines Kunstwerks bezeichnen könnte: ein monströser Betonzylinder, dessen einzige Funktion, d.h. der Grund, warum er erstellt und an seinem jetzigen Ort platziert wurde, sein Gewicht ist. Der „Schwerbelastungskörper“ sollte dazu dienen, die Belastungsmöglichkeiten des Berliner Bodens zu testen bzw. die Statik für den Bau eines gigantischen Triumphbogens zu simulieren, der im Rahmen von Adolf Hitlers Plänen für die „Welthauptstadt Germania“ in Berlin errichtet werden sollte. Es handelt sich heute um einen denkmalgeschützten „Ort der Erinnerung“, der eingezäunt und mit Erklärungstafeln auf Stelen und sogar einem Aussichtsturm zum besseren Beobachten des Belastungskörpers und der weiteren Umgebung versehen wurde und der Tourist*innen und anderen Interessierten zu bestimmten Zeiten zugänglich gemacht wird.
Protagonisten der Dokumentation sind der dänische Journalist Adam Holm, dessen Großvater im Widerstand gegen die Nationalsozialisten gekämpft hat und dessen Großonkel, ebenfalls ein Widerständler, in einem Konzentrationslager eingesperrt war, sowie der deutsche Universitätslektor Moritz Schramm, Enkel des Architekten und NS-Politikers und NS-Hauptverbrechers Albert Speer. Erst anlässlich dieser Dokumentation hat Moritz Schramm seine Verwandtschaft mit ihm öffentlich thematisiert.
Die gemeinsame Sprache ist Dänisch, die Muttersprache von Adam Holm, die auch von Moritz Schramm, der seit seiner Studienzeit in Dänemark lebt, auf einem hohen Niveau beherrscht wird. Beide Dialogpartner reisen für den Film durch Deutschland zu den „Wirkungsstätten“ von Albert Speer, die als „Orte der Erinnerung“ bzw. Gedenkstätten zu besichtigen sind. Schramm macht sich keine Illusionen über die Untaten seines Großvaters; er bezeichnet ihn, den er noch als Kind als „freundlichen alten Herrn“ kennengelernt hat, als einen der größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte. In diesem Punkt dürften sich die Dialogpartner einig sein, ansonsten unterscheiden sich ihre Perspektiven allerdings manchmal erheblich. Dies ist, und das wird in dem Film deutlich, einerseits in der „deutschen“ und „dänischen“ Kultur bzw. Erinnerungskultur begründet, andererseits aber auch in der Biografie und Familiengeschichte der beiden Protagonisten. In einem Gespräch unmittelbar unter dem Eindruck des von Albert Speer konstruierten „Schwerbelastungkörpers“ (Abb. 5) zeigen sich die unterschiedlichen Sichtweisen. Zuvor haben die beiden Gesprächspartner in einer Ausstellung ein Modell der geplanten „Welthauptstadt Germania“ besichtigt. Sie staunen über die „Große Halle“, die als Teil des Projektes das 17-fache Volumen des Petersdoms in Rom umfassen sollte. Moritz Schramm thematisiert auch, dass viele Juden und Jüdinnen, die in Berlin lebten, auf Befehl von Albert Speer deportiert und ermordet wurden, damit, wie geplant, ein großer Teil der Wohnungen Berlins geräumt werden konnte, um Platz für das Bauprojekt „Germania“ zu schaffen – „Somit war er ganz konkret in Deportationen und Massenmord involviert“ (Moritz Schramm).
[1] https://www.dr.dk/drtv/se/min-morfar-hitlers-ven_197703 – min 26:28-28:15
Dialog vor dem „Schwerbelastungskörper“ in Berlin Tempelhof
Adam Holm: Warum zum Teufel hat man das nicht weggesprengt? Weg damit! Macht diesen Bestandteil der Wahnsinnspläne von den Nazis dem Erdboden gleich!
Moritz Schramm: ja –
Adam Holm: Ich merke, dass ich wütend werde, wenn ich hier stehe.
Moritz Schramm: Das kann ich eigentlich selbst nicht so empfinden. … Aber es ist interessant, dass es dir so geht, nicht wahr? Mir geht es eher so, dass ich froh bin, dass man etwas hat, wohin man gehen kann und sich aufregen kann, angesichts des ganzen Wahnsinns, den wir hier hatten.
Adam Holm: So würde ich auch gern denken …
Moritz Schramm: ja
Adam Holm: … denn das wäre der rationale Zugang. Mit dem man die ganze Zeit die Geschichte studieren kann. Ich glaube, das ist deshalb so, weil mich in diesem Zusammenhang die ganzen Opferanteile etwas betroffen machen bei dem – wie kann man das sagen? – Aufwand, der mit sowas wie dem hier verbunden war.
Moritz Schramm: ja. Aber könnten wir dieses Gespräch führen, wenn wir nicht hier stünden und das sehen könnten? Also in Bezug auf die Opfer. Wo man ja manchmal, auch in Dänemark, die Idee hat, dass gerade Alber Speer, mein Großvater …. – „er war ja nur Künstler, Architekt, unpolitisch“, nicht wahr? Aber ein hässlicher Betonklotz wie dieser hier ist schon voller Blut von den Juden, die deportiert werden sollten und alle erschossen wurden.
Adam Holm: [in Erregung] Und du hast Recht! Natürlich ist es wichtig, hier zu stehen und darüber zu reden! So wie wir es machen! Unabhängig davon, ob da eine Kamera dabei ist. Doch wenn ich die Macht hätte, dann wären da zwei Dynamitstangen drin und [Geräusch einer Explosion imitierend] prrrr…
Moritz Schramm: Also ich finde, das wäre ärgerlich. Ich bin gerade in einer Zeit aufgewachsen, in der man versuchte, das Schweigen, das über der Nazi-Zeit lag, aufzuarbeiten.
Adam Holm: Ja, ja.
Moritz Schramm: Und es ist vielleicht so, dass diese Art Monumente, gerade in ihrer Hässlichkeit und ihrer völligen Absurdität, dazu beitragen, den Fokus darauf zu legen, dass wir nicht länger schweigen sollen, dass wir über diese Dinge sprechen sollen. Und wir sollten auch darüber sprechen, dass das nicht einfach nur unpolitische Architekturpläne waren, sondern dass schon die Planung Massenmord zum Inhalt hatte.
Dieses Gespräch ist deshalb interessant, weil sich die beiden Gesprächspartner von dem Objekt, vor dem sie stehen, beeindrucken lassen und unter diesem Eindruck argumentieren, dies wiederum in ihrem Dialog thematisieren und versuchen, ihre unterschiedlichen Perspektiven auszudrücken und zu verstehen. Beide assoziieren mit dem Objekt das Leid der Opfer, die mit dem Gesamtprojekt „Germania“, das beide als absurd und „Wahnsinn“ beurteilen, verbundenen waren. Bei Adam Holm zeigt sich diese Wirkung jedoch unmittelbarer, während Moritz Schramm eine stärkere Distanz bewahrt, indem er dem Objekt eine besondere Funktion zuordnet: die der Mahnung zur gemeinsamen Erinnerung und Aufarbeitung. Es spiegelt sich hier auch der Umgang der deutschen Erinnerungskultur mit Schuld, die auch für die Nachkriegsgenerationen noch für relevant erachtet wird. Das Gefühl von Schuld kann lähmend wirken und kaum konstruktiv, somit gibt es Strategien, ihr etwa durch Rituale und Errichtung von speziellen Orten der Erinnerung zu begegnen. Adam Holm kann Moritz Schramm weniger auf der emotionalen Ebene, dafür aber auf einer rationalen Ebene verstehen und seine Argumente nachvollziehen.
Die Beschäftigung mit solchen Gesprächen könnte dazu anleiten, sich selbst seiner besonderen, auch emotionalen, Reaktion und Sichtweise bewusst zu machen, die andere vielleicht nicht teilen, aber nachvollziehen können.